Der Raum einnehmende „alte weiße Mann“: Wege aus der Simulation der Patrix

Ein Medienwissenschaftler spricht das "Lob des alten weissen Mannes" aus - und mir wird schlecht. Ich gehe in diesem Essay der Frage nach, warum. Es bringt mich zu einem Erlebnis mit einem Mann in der U-Bahn und zu den Büchern von Marlen Haushofer.

Neulich entdeckte ich in meiner Podcast-App eine Folge der „Sternstunden der Philosophie“ des Schweizer Rundfunks, die mich sofort ansprang: „Das Lob des alten weissen Mannes“, ein Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Während ich mir das Frühstück zubereitete, drückte ich auf den Start-Knopf.

Ich beginne Haferflocken in kochendes Wasser zu rühren – und beginne auch innerlich zu brodeln. „Alt“ meint bei Bolz Erfahrung und Tradition, „weiß“ Rationalität und Naturbeherrschung und „männlich“ Risiko, Autonomie und Nonkonformismus. Da könne man sich fragen, welches vernunftbegabte Wesen etwas dagegen haben könnte, wirft der Moderator ein. Bolz lacht, das findet offensichtlich seine Zustimmung.

Es sei eine pathologische Entwicklung im Gange, sagt er, eine Hysterisierung. Auf Nachfrage des Moderators sagt er, klar gäbe es eine Geschichte des Rassismus, des Kolonialismus, der Nazis. Aber„ist das ein aktuelles Problem?“ Die „betroffenen Gruppen“, wie er sagt, hätten ein Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom entwickelt. Ich denke: Aha, in seinen Augen sind sie also schlicht überempfindlich, ihnen wurde doch schon so vieles zugestanden von den "weißen alten Männern", und immer noch geben sie keine Ruh.

Später spricht Bolz davon, dass es darum gehe, die männlichen Tugenden wieder zu schätzen und zu pflegen. Sie nämlich machten das Europa der Aufklärung aus, seien Fundamente der Demokratie. Und seien durch Gendern und Wokeness in Gefahr.

In mir breitete sich Unbehagen als Übelkeit im Magen aus. Etwas, das ich nicht recht zu fassen kriegte, zumindest hätte ich nicht gleich so klare Worte parat gehabt wie Bolz, der sich selbst stolz als alter weißer Mann bezeichnet. Doch ich wusste, in der Küche stehend und mein Porridge umrührend, dass es wichtig ist, eine Sprache dafür zu finden. Über meine Wahrnehmung zu sprechen. Nicht länger zu schweigen.

Herr Bolz, ich nehme mir den Raum zu sprechen. Es ist nicht alles in Ordnung. Für viele ist es aktuell. Und es ist nicht bloß ein akademischer Diskurs, wie Sie es nennen.

Was ist dieses Unbehagen, das ich spürte?

Ich sitze in Wien in der U-Bahn. Es ist schon einige Jahre her, ich habe damals noch in Wien gewohnt. Ein Mann setzt sich neben mich. Seine Beine weit gespreizt. Er reicht mit seinem linken Bein über die Hälfte meines Sitzes. Ich bin schlank, brauche nicht viel Platz. Ich mache mich noch schmäler. Doch halt! Warum maßt er sich an, so breit dazusitzen? So viel Raum einzunehmen? In meinen Raum einzudringen? Ich spüre Ärger und Wut. Aber auch eine Beklemmung. So, als wäre die Situation ausweglos. Ich möchte etwas sagen. Überlege, was. Welche Worte wählen? Ich möchte nicht aggressiv wirken. Aber auch nicht unsicher. Warum sage ich gar nichts? Sondern ziehe mich zurück? Als ich aussteige, ärgere ich mich über mich selbst. Rückzug. Ich habe diesem Mann meinen Platz überlassen.

Viele Fragen schon damals in mir. Ein Aspekt dabei war: Ich habe nichts gesagt, habe mich zurückgezogen. Das war ein persönliches Thema. Doch nicht nur! Es war ein Fakt, dass dieser Mann sich ausgebreitet hat. Warum erlauben sich viele Männer, im öffentlichen Raum, mehr Platz einzunehmen als Frauen? Ist ihnen das überhaupt bewusst? Es ist diese Selbstverständlichkeit, die mir auffällt.

Ich schaue kurz, nachdem ich mir den Podcast angehört habe, auch in die Fernsehaufzeichnung hinein. Norbert Bolz sitzt im Studio und spricht von den männlichen Tugenden der westlichen Welt, die er durch „Prinzessinnen auf der Erbse“ in Gefahr sieht. Er wirkt höflich; seine Beine sehe ich nicht, vermutlich sitzt er nicht breitbeinig im Studiosessel. Doch da ist ein Zusammenhang, das ahne ich.

Sich Raum zu nehmen, ist ein Grundbedürfnis. Sich entfalten können, hat immer auch mit Raum zu tun. Sich das zuzugestehen. Und gerade bei Frauen, auch mir selbst, erlebe ich, dass diese Erlaubnis nicht einfach ist. Wann wird das Sich-Raum-nehmen jedoch zu einer Haltung, die übergriffig ist? Wann wird es wie zu einer Expansion in fremde Kontinente? Kolonialismus. Weiß und männlich als Norm gesetzt. Als beste aller möglichen Welten.

Das bringt mich zu einer anderen Quelle, die mich gerade beschäftigt. „Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern“ von Carel von Schaik und Kai Michel. Die Autoren stellen sich die Frage, wie es zur männlichen Dominanz gekommen ist. Wie konnte es passieren, dass Frauen nicht gleichberechtigt sind? Die beiden verwenden den Begriff „Patrix“. So wie sie das ausführen, finde ich das ein stimmiges Bild: Wie im Film Matrix handeln wir in einer Welt, die nur eine sexistisch verzerrte Simulation ist. Es handle sich um eine patriarchale Matrix.

„Wir haben es mit einer männlich deformierten Realität zu tun, die so tut, als sei sie die tatsächliche Wirklichkeit, dabei ist sie nur ein kulturelles Produkt, eine Simulation.“ (S. 31)

Es ist nicht die objektive Wirklichkeit, als die sie so häufig hingestellt wird. Es ist keine „göttliche Ordnung“, kommt mir hier ein Schweizer Filmtitel in den Sinn. Das ist es, was mir bei den Ausführungen von Norbert Bolz in den „Sternstunden der Philosophie“ meinen Magen aufgerührt hat, sodass er mein Porridge zunächst gar nicht aufnehmen wollte: Bolz stellt die westliche Welt und die Tugenden des von ihm hochgehaltenen "alten weißen Mannes" als Wirklichkeit hin, die einzig wahr ist.

Ich selbst habe schon früh geahnt, dass hier etwas nicht stimmt. Doch es war schwierig, Worte dafür zu finden. Schon mit Anfang zwanzig hat es mich zu Büchern der österreichischen Autorin Marlen Haushofer gezogen: Die Romane „Die Wand“, „Die Mansarde“, „Die Tapetentür“, besonders eindrücklich war für mich die Erzählung „Wir töten Stella“, und waren auch einige kürzere Erzählungen.

Eine Freundin im Alter meiner Mutter war erstaunt darüber, dass mir die Werke Haushofers in so jungen Jahren schon zusagten, sie selbst schätzte sie auch sehr, ihr hatten sie aber erst in späterem Alter als mir etwas zu sagen begonnen.

Das, was die Protagonistinnen bei Haushofer denken und fühlen, war mir so nahe. Ihr sprachloses Entsetzen. Im Rückblick erkenne ich, dass es von da an mein Weg war, andere Wege zu finden, als die Frauen in Haushofers Geschichten. Denn sie resignieren, finden sich ab, ohne sich abfinden zu können. Leben weiter mit der Wand, die sie wahrnehmen – der Wand, sie sie schützt, aber auch radikal abtrennt.

Gibt es einen anderen Weg als Resignation? Als Rückzug? Ich denke an einen Facebook-Eintrag, den ich neulich gelesen habe. Eine Frau berichtet darüber, dass sie ihren Firmennamen geändert habe. Das „Diversity“ darin sei weggefallen. Denn Diversity und Gender riefen immer mehr Widerstände hervor. Sie fände das schade. Aber es ginge ja um das Miteinander in den Firmen.

Ich lese darin die Ansicht: Setzt man sich für Diversität ein, dann übertreibe man, spalte man. Aber auch die Beobachtung, damit immer mehr Gegenwind zu bekommen. Da müsse man halt nachgeben. "Sich fügen" kommt mir als Ausdruck in den Sinn. Auch hier: ein Rückzug. Und eine Zuflucht zu den Normen des "alten weißen Mannes". Ein Teil dieser Normen ist die Rationalität als Zeichen von Vernunft. Ausgeklammert werden andere Formen des Erkenntnisgewinns. Abgewertet.

Doch es ist ein Wissen, das zunächst nur Ahnung ist, das mich auf eine Spur bringt. Auch Haushofers Frauenfiguren haben dieses Ahnen gekannt. Sie haben jedoch noch keine Wege gefunden, es wertzuschätzen und kreativ damit umzugehen, Neues daraus zu schöpfen.

Dieses Wissen zeigt mir: Da ist etwas wichtig, schau dir das näher an. Das noch Unklare. Noch nicht in bekannte Worte Fassbare. Es ist verbunden mit Gefühlen, die anzeigen, dass hier etwas von Bedeutung ist; mit inneren Bildern, die etwas zeigen mit einem Reichtum, der dem analytischen Verstand alleine nicht zugänglich ist. Farben, Erinnerungen, Widersprüche. Mehr ein spielerisches Mäandern, ein sich schlängeln, sich winden, zuweilen durchaus schmerzvoll, bis sich ein Muster abzeichnet, das auch mit Worten beschrieben werden kann.

Diesen Erkenntnisweg nehme ich ernst. Lasse mich nicht länger davon abbringen, mich auf diesen verschlungenen Weg zu begeben, obwohl mir gesagt wird: Komm doch schnell auf den Punkt. Und ich denke, das betrifft mehr als meine persönliche Erfahrung – diese mäandernden Wege könnten aus der Patrix herausführen.

Falls sich nächstens wieder jemand in der U-Bahn, Straßenbahn, im Bus, wo auch immer, in meinen Platz hin ausbreitet, dann werde ich nicht länger zulassen, was mich stört und nicht richtig für mich ist. Ich brauche nicht aggressiv zu reagieren, doch kann ich sein Verhalten benennen und ihm vermitteln: Stopp, no more!

Quellenangaben:

Norbert Bolz – Lob des alten weissen Mannes. SRF Sternstunden der Philosophie vom 07.05.2023

Carel van Schaik und Kai Michel: Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern. Rowohlt 2022

Marlen Haushofer (Wikipedia)
Marlen Haushofer (Webseite über sie und ihr Werk)
Marlen Haushofer: literarische Tätigkeit